Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 1. Mai 1968
Einstellungen
Zeige Markierungen im Text
Kontext
Absolute Chronologie
Vorausgehend
- 1968-01-28: an Enzensberger
- 1968-03-05: von Enzensberger
Folgend
- 1968-05-18: an Enzensberger
- 1968-06-19: von Enzensberger
[Manuskript]
Via del Fontanile
Marino (Roma)
in dem gestrigen Gespräch mit dem RAI-Mann (der
Maestro
Chailly, er hat gerade sein
opus 307 beendet) kam
nur so viel
he‡raus, dass ich ihm jetzt einen
Brief schreiben
werde, um die Fragmente unseres Gesprächs
festzuhalten. Werde Dir
eine Kopie schicken.*
Und Du müsstest Deine finanzielle Forderung
stellen. Ich habe 15 Millionen
Lire verlangt, was die
Herren erstaunte, und nun wird gefeilscht. Es ist
ratsam, sich
nicht mit allen Rechten zu verkaufen, also lieber
etwas
weniger Bar-Geld akzeptieren‡ als dann bei
Wiederholungs-Sendungen etc.
nicht in der Lage zu sein, die Sendegebühren zu
kassieren.
Bei einer Euro-Visions-Sendung kann man praktisch von
jedem
einzelnen Sender die Gebühren verlangen, das sog. „grosse
Recht“
da käme eine ganze Menge heraus. Das „große
Recht“
wird nicht von der GEMA, sondern
vom Verlag kassiert und
den Autoren weitergeleitet. Die Summe ist nicht
feststehend,
sondern schwankend und wird ausgehandelt –
Mein Leben ist geschwächt und wirkt auf mich wenig er-
mutigend. Hänge herum und bedaure den Zustand. Das Schlimmste
ist die Geräusch-Empfindlichkeit. Vielleicht liegt es auch nur
an dem Hören von neuen Tönen. Schön wäre das. Im Moment
ist alles schwer, und schwerer denn je, und das will viel
heissen.*
Ich möchte bald Salvatore Pascal sehen, werde ihm ein
Flugbillet über meinen
Berliner Impresario* schicken (being pennyless
myself) sodass er herkommen kann, tamque haec sit nostri
medicina furoris, aut deus ille malis hominum mitescere discat.
*
Grüsse Dagrun schön: warum ist sie in die Klinik gegangen?
Sie sah sehr blass aus.
Mein Lieber, ich hoffe, dass wir wirklich etwas zusammen machen
werden. Werde mich nun auch darum kümmern, Bellocchio zu
treffen. Es soll einen neuen, sehr engagierten Mann geben, Orsini,
der eben einen Film über das‡
terzo mondo gemacht hat.* Vielleicht
kenne ich ihn auch (durch Luigi Nono –) und Du, sammle
Du Ideen!
Heute ist nun in Berlin die grosse Demonstration*: hoffentlich ist
sie wirkungsvoll und richtig, damit Eure Skepsis keine Nahrung be-
kommt. Und wie geht es weiter mit dem Rundfunk? –
Sei brav und bleibe mein gutes Beispiel, stark und konzentriert.
Schreibe, und schreibe mir –
hans‡
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle
Überlieferung
-
Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
Signatur: Briefe Hans Werner HenzeQuellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- Briefpapier Henze: festeres helles Briefpapier, strukturiert
- 1 Blatt
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 280x221 [mm] (HxB)
- Absätze ohne Einzug
- Rand: 4cm
- Anführungszeichen oben unten
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Handschrift, Henze, Hans Werner, Kugelschreiber (blau).
Textkonstitution
-
"e""" überschrieben mit "e"
-
"akzeptieren"über der Zeile hinzugefügt
-
"as""en" ersetzt durch "as"
-
"… hans"Der Anfangsbuchstabe von „hans“ mit langem Abstrich.
Einzelstellenerläuterung
-
"… Werde Dir eine Kopie schicken."Diese Kopie ist bislang nicht nachweisbar.
-
basta di questa merda.
- Schluss mit diesem Mist.
-
"… und das will viel heissen."Laut Autobiographie (S. 292f.) war Henze Anfang 1968 sehr geschwächt und hatte er sich nach der Teilnahme an dem Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 und einer intensiven Kompositionsphase in den Libanon zur Erholung zurückgezogen, die er letztlich erst in einem Hotel in Baalbek fand: „dort lag ich nun tagelang, ohne mich zu rühren und ohne zu reden, bei jedem Geräusch oder Lichteinfall schmerzlich zusammenzuckend, auf meinem Bett.“ (S. 293). Henze brach diesen Aufenthalt unmittelbar ab, als er von dem Attentat auf Dutschke am 11. April 1968 hörte und flog direkt über Rom nach Berlin.
-
"… Flugbillet über meinen Berliner Impresario"Es konnte noch nicht nachgewiesen werden, wen Henze hiermit meint.
-
"… ille malis hominum mitescere discat." Vergil, Ecloga X. Übersetzung: „Ach, als ob das Heilung von meiner Betörung wäre und dieser Gott vom Unglück der Menschen sich erweichen ließe.“ Zitiert nach: Friedrich Klingner, Virgil. Bucolica. Georgica. Aeneis, Zürich und Stuttgart 1967 (Ecloga X auf S. 160–166, Zitat Zeile 60f. = S. 162/163).
-
terzo mondo
- Dritte Welt
-
"… as terzo mondo gemacht hat."Henze spricht hier den Film „I dannati della terra“ an, den Valentino Orsini 1968 veröffentlicht hat.
-
"… in Berlin die grosse Demonstration"Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke erhielt die Demonstration am 1. Mai eine besondere politische Bedeutung.