Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 1. Mai 1968

Zurück

Einstellungen

Zeige Markierungen im Text

Absolute Chronologie

Vorausgehend

Folgend

[Manuskript]

La Leprara
Via del Fontanile
Marino (Roma)
1 Mai 68
     Lieber Hans Magnus,

in dem gestrigen Gespräch mit dem RAI-Mann (der Maestro
Chailly
, er hat gerade sein opus 307 beendet) kam
nur so viel heraus, dass ich ihm jetzt einen Brief schreiben
werde, um die Fragmente unseres Gesprächs festzuhalten. Werde Dir
eine Kopie schicken.* Und Du müsstest Deine finanzielle Forderung
stellen. Ich habe 15 Millionen Lire verlangt, was die
Herren erstaunte, und nun wird gefeilscht. Es ist ratsam, sich
nicht mit allen Rechten zu verkaufen, also lieber etwas
weniger Bar-Geld akzeptieren als dann bei Wiederholungs-Sendungen etc.
nicht in der Lage zu sein, die Sendegebühren zu kassieren.
Bei einer Euro-Visions-Sendung kann man praktisch von jedem
einzelnen Sender die Gebühren verlangen, das sog. „grosse Recht“
da käme eine ganze Menge heraus. Das „große Recht“
wird nicht von der GEMA, sondern vom Verlag kassiert und
den Autoren weitergeleitet. Die Summe ist nicht feststehend,
sondern schwankend und wird ausgehandelt –

basta di questa merda.

Mein Leben ist geschwächt und wirkt auf mich wenig er-
mutigend. Hänge herum und bedaure den Zustand. Das Schlimmste
ist die Geräusch-Empfindlichkeit. Vielleicht liegt es auch nur
an dem Hören von neuen Tönen. Schön wäre das. Im Moment


ist alles schwer, und schwerer denn je, und das will viel
heissen.*

     Ich möchte bald Salvatore Pascal sehen, werde ihm ein
Flugbillet über meinen Berliner Impresario* schicken (being pennyless
myself
) sodass er herkommen kann, tamque haec sit nostri
medicina furoris, aut deus ille malis hominum mitescere discat.
*

        Grüsse Dagrun schön: warum ist sie in die Klinik gegangen?
Sie sah sehr blass aus.

Mein Lieber, ich hoffe, dass wir wirklich etwas zusammen machen
werden. Werde mich nun auch darum kümmern, Bellocchio zu
treffen. Es soll einen neuen, sehr engagierten Mann geben, Orsini,
der eben einen Film über das terzo mondo gemacht hat.* Vielleicht
kenne ich ihn auch (durch Luigi Nono –) und Du, sammle
Du Ideen!

Heute ist nun in Berlin die grosse Demonstration*: hoffentlich ist
sie wirkungsvoll und richtig, damit Eure Skepsis keine Nahrung be-
kommt. Und wie geht es weiter mit dem Rundfunk? –

Sei brav und bleibe mein gutes Beispiel, stark und konzentriert.
Schreibe, und schreibe mir –
hans

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • Briefpapier Henze: festeres helles Briefpapier, strukturiert
    • Umfang

    • 1 Blatt
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 280x221 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Absätze ohne Einzug
    • Rand: 4cm
    • Anführungszeichen oben unten

Schreibstile

Textkonstitution

  • "e""" überschrieben mit "e"
  • "akzeptieren"über der Zeile hinzugefügt
  • "as""en" ersetzt durch "as"
  • "… hans"Der Anfangsbuchstabe von „hans“ mit langem Abstrich.

Einzelstellenerläuterung

  • "… Werde Dir eine Kopie schicken."Diese Kopie ist bislang nicht nachweisbar.
  • basta di questa merda.
    • Schluss mit diesem Mist.
  • "… und das will viel heissen."Laut Autobiographie (S. 292f.) war Henze Anfang 1968 sehr geschwächt und hatte er sich nach der Teilnahme an dem Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 und einer intensiven Kompositionsphase in den Libanon zur Erholung zurückgezogen, die er letztlich erst in einem Hotel in Baalbek fand: „dort lag ich nun tagelang, ohne mich zu rühren und ohne zu reden, bei jedem Geräusch oder Lichteinfall schmerzlich zusammenzuckend, auf meinem Bett.“ (S. 293). Henze brach diesen Aufenthalt unmittelbar ab, als er von dem Attentat auf Dutschke am 11. April 1968 hörte und flog direkt über Rom nach Berlin.
  • "… Flugbillet über meinen Berliner Impresario"Es konnte noch nicht nachgewiesen werden, wen Henze hiermit meint.
  • "… ille malis hominum mitescere discat." Vergil, Ecloga X. Übersetzung: „Ach, als ob das Heilung von meiner Betörung wäre und dieser Gott vom Unglück der Menschen sich erweichen ließe.“ Zitiert nach: Friedrich Klingner, Virgil. Bucolica. Georgica. Aeneis, Zürich und Stuttgart 1967 (Ecloga X auf S. 160–166, Zitat Zeile 60f. = S. 162/163).
  • terzo mondo
    • Dritte Welt
  • "… as terzo mondo gemacht hat."Henze spricht hier den Film „I dannati della terra“ an, den Valentino Orsini 1968 veröffentlicht hat.
  • "… in Berlin die grosse Demonstration"Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke erhielt die Demonstration am 1. Mai eine besondere politische Bedeutung.

        XML

        Dank

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

        Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
        so bitten wir um eine kurze Nachricht an henze-digital [@] zenmem.de.