Brief von G. Weil an H. W. Henze, 14. Mai 1970

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[Manuskript]

CH 6611 Contra/TI Grete Weil-Jockisch
14. 5. 70
Mein lieber Hans,

von all den weit mehr als 100 Briefen, die ich bekommen
habe, war der deine der einzige, der weder aus Butzi noch aus mir
ein Klisché gemacht hat – hab vielen Dank. Die letzten Jahre
waren aber viel weniger hysterisch, also in gewisser Weise auch
schöner und ruhiger, wenn auch mit der Hysterie natürlich
etwas, das zu meinem Leben gehörte und eine grimige Tat
der Liebe war, weggegangen ist. Die letzten 8 Monate waren für
mich entsetzlich, ich wusste, dass er sterben würde und musste
immerzu lügen und Theater spielen, um es ihm zu verheim-
lichen, was mir dann ja auch gelungen ist, er war richtig
ahnungslos, war es sicher bis eine Woche vor dem Tod, wo er
aber bestimmt auch nichts wusste, sondern es nur im Unter-
bewusstsein fühlte, wie ein verendendes Tier, das sich verkriecht.*
Ja und nun ist es schwerer als es je vorher war, aber ich schaffe es


schon und habe das Gleichgewicht, das du mir wünschst. Ich hoffe,
dass ich arbeiten kann, habe es vor und will das einsame
Leben ertragen, solange mir meine Ohren noch Kommunikation
ermöglichen. Es gibt ziemlich viele gute Freunde, im Augen-
blick bin ich allerdings allein, aber das ist nicht schlimm, ich
liebe das Haus und den Garten sehr, meinen Hund und die
weiten Spaziergänge, die ich mit ihm mache.

Auszuhalten ist es wieder, wenn ich nicht herumfahre.
Butzi und ich waren uns nie näher, als wenn wir zusammen
gereist sind, das hat jetzt aufgehört. Aber weisst du, ein
Teil meiner Geheimnisse – wenn auch sicher nicht das einzige –
war doch, dass ich die wirklich große Liebe meines Lebens,
Edgar, schon verloren hatte, als du mich kennen lerntest,
auf so unvorstellbare grauenhafte Weise verloren, dass eine
Wunde zurück blieb, die sich nie schliesst und mit der, über
jedes persönliche Schicksal hinaus, soviel Verzweiflung an
der Welt zurückgeblieben ist. Dass jemand an Leukämie


CH 6611 Contra/TI Grete Weil-Jockisch

stirbt, muss und kann man hinnehmen, dass ein Dreiund-
dreissigjähirger umgebracht wird (zu Tode gefoltert? Ich
weiss es nicht und werde es auch nie wissen), ist unakzeptabel
und unerträglich. Ich war 35 damals und habe es durch-
gestanden, jetzt ist das Schwere, dass ich fast 64 bin. Dabei habe
ich noch soviel Kraft, woher weiss der liebe Gott, ich weiss
nicht, was damit anfangen und will versuchen, sie in
Arbeit umzusetzen. So ist es. Ich wäre aber glücklich, lieber
Hans, wieder von dir zu hören – durch Renate weiss ich
eine ganze Menge von dem, wie du lebst – noch besser wäre
es, dich einmal wiederzusehen. Kannst du bei einer
Zwischenlandung in Mailand nicht einmal unterbrechen?*
Ich könnte dich dort abholen, autofahren kann ich noch
immer genau so gut, wie damals auf der vereisten Auto
bahn*. Sei bedankt und umarmt von

Deiner
Butza

Apparat

Überlieferung

  • Textzeuge: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Hans Werner Henze, Abteilung: Korrespondenz

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • graues Briefpapier Grete Weil-Jockisch
    • Faltung: 2mal quer auf ca. Dinlang
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 267x181 [mm] (HxB)
    • Zustand

    • Blätter unten 1mm umgeknickt
    • Layout

    • Absätze ca. 3 cm eingerückt

Schreibstile

Textkonstitution

  • "… 14. 5. 70"Das Datum steht rechts neben dem gedruckten Briefkopf.
  • "grimige"unsichere Lesung

Einzelstellenerläuterung

  • "… verendendes Tier, das sich verkriecht."Vgl. auch die Beschreibung in Generationen, S. 17–21.
  • "… in Mailand nicht einmal unterbrechen?"Diese Anregung scheint Henze umgesetzt zu haben, denn das Telegramm vom 15. Juni 1970 kündigt eine Ankunft in Mailand am 17. Juni 1970 um 11.30 Uhr an. Henze dürfte dabei eine Reise nach Avignon unterbrochen haben; vgl. Autobiographie, S. 364f.
  • "… auf der vereisten Auto bahn"Vgl. hierzu Henzes Beschreibung im vorangehenden Brief.

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