Brief von H. M. Enzensberger an H. W. Henze, 4. Juni 1972
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[Typoskript]
eingezwängt in die sogenannten "Termine" (morgen fahr ich
für ein paar Wochen fort, nach England und Skandinavien) und den Tisch
voller Druckfahnen (mein Roman, ein dreibändiges "Lesebuch"
, Kursbücher)
will ich dir doch für deinen langen Brief danken, derxxx‡ zwischen dessen
Zeilen ich lese, daß es dir nicht allzu wohl zumute ist, ich errate nur
nicht was dich bedrückt. Wahrscheinlich hat es mit der Musik gar nichts
zu tun obwohl auch die Musik davon ergriffen wird wie alles was du machst.
Aber was das richtige Leben ist wissen wir ja alle nicht. Kurzum ich
denke daran wie es dir geht und wünschte es ginge dir gut.
Vielleicht arbeitest du einfach zuviel. Das kann man ein paar Monate lang
machen aber du machst es schon seit Jahrzehnten. Auf einmal wacht man auf
und denkt: ich habe keine Lust mehr. Sollen sie ihre Bücher (‡ihre Musik,
ihre Politik, ihre Hosen, ihre Vitaminpillen usw) selber machen.
Das ist gefährlich.
Gefährlicher als Schott und NET zusammen. Denn mit denen werden wir schon
noch fertig, wenn es sein muß.
Über Adler/NET wundere ich mich nicht, ich war auf noch Schlimmeres gefaßt.
Daß die Bude ein wenig wacklig ist, hat jedoch den Vorteil daß die unsere
Sache ziemlich dri‡ngend brauchen. Die Regie-Frage kann ich natürlich
nicht beurteilen. Überhaupt bin ich dir in diesen Fragen keine rechte Hilfe
weil ich dieses ganze business zu wenig kenne. Wahrscheinlich wird es gut
sein, wenn du Browning den Titel eines Regisseurs läßt – oft kommt es für
so jemand darauf an wie seine Funktion heißt, während du oder ich darauf
nicht so angewiesen sind. Du würdest dann eine Art Überwachung leisten,
ganz egal wie man das nennen wird, vermutlich "Berater". Was die Besetz‡ung
angeht so vertraue ich deinem Urteil sozusagen blindlings und ohne jede
Reserve. Ich hätte auch gar nichts dagegen, daß Paco und Federico von ein
und demselben Dargesteller[sic]‡ gespielt würden, dachte auch schon daran, fürchtete
nur den Acteur zu überfordern. Pola Negri fände ich absolut sensationell.
Edinburgh wäre vermutlich ein ausgezeichneter europäischer Start.
Warum hast du Arthur Mitchell nicht mit nach Europa gebracht? Vielleicht
ginge es dir dann besser. Es ist auch nicht gut, daß deine Freunde alle so
weit weg sind. Geographie ist glaub ich sehr wichtig. Ein blöder Idealismus
zu glauben, "wenn du nur mit mir zusammen auf der Welt bist" – fünfhundert
Kilometer Entfernung oder fünf Meter macht einen Unterschied wie Leben und
Tod. Aber ich schweife schon wieder ab. Oder sind alles andere Abschweifungen?
Zu der Verlagsgeschichte weiß ich überhaupt nicht was ich sagen soll. Denn
ich kenne mich in dieser Brachxxxxx‡ Branche nur insofern aus als ich sie bisher
über alle Maßen beschissen fand, dh. natürlich ich kenn sie bisher nur
qua Schott. Ihr letztes Meisterstück: die Partitur des Violinkonzerts.
Diese Partitur (ich kenn‡ überhaupt keine Noten lesen) habe ich mit dem
größten Vergnügen studiert, sie sieht so lustig und ein wenig tückisch
aus, voller Fallen, wie das Gedicht *, man hat das Gefühl über viele Ein-
fälle zu gleiten. Schott hingegen läßt im ersten Satz des Textes das
Verbum weg (“exist”) wodurch der Satz sinnlos wird, und vermerkt weder
in der Partitur noch auf dem Umschlag noch sonstwo daß dieser Text Ver-
fasser und Übersetzer hat. Das wird natürlich zur Folge haben, daß die
Programme, Schallplatten usw da‡sselbe, mir schon liebsam vertraute Ver-
fahren einschlagen. Also von mir auch nur eine Silbe zugunsten Schotts
zu erwarten hieße mich wirklich für Albert Schweitzer halten; vielmehr
bin ich sicher daß diese Arschlöcher es nie kapieren werden.*
Wie aber die ganze Sache, dh deine verlegerische Situation juristisch
und ökonomisch aussieht, davon habe ich nicht die geringste Ahnung. Mal
sehen was die Anwä‡lte dazu sagen. Falls du den Verlagswechsel durchkriegst,
sehe ich für meinen Teil keine Schwierigkeiten. Natürlich wäre zu verlangen,
daß der neue Verleger Salabert in die bestehenden Verträge einsteigt,
ohne daß es zu neuer Feilscherei kommt. Aber so wie du S. beschreibst
wird er wohl kaum daran denken die Bedingungen zu verschlechtern, und
jede Verbesserung wollen wir uns gern gefallen lassen. In jedem Fall aber
solltest du dich genauestens mit Sieger beraten, damit Schott dir kein
Bein stellen kann – darin haben diese Leute ja Übung, es ist sicher ihre
größte Stärke.
Ich würde an und für sich gern wieder mal nach New York fahren, aber
ich kann das nichttx‡ tun, solang der Vietnamkrieg weitergeht. Habe aus
diesem Grund schon viele Sachen absagen müssen. (I took a public stand
on this, which may have been foolish or not, but there is nothing to be
done about it.) Vielleicht kann ja Mel Mandel nach Europa kommen, oder
wir machen die Sache brieflich ab.
Leb wohl! Un abrazo come siempre. Que te vaya bien la música y el amor.
deinm
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle
Überlieferung
-
Textzeuge: Paul Sacher Stiftung (CH-Bps)
Quellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- festeres helles Papier
- Faltung: 2mal auf DinA6
- 2 Blätter
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 298x209 [mm] (HxB)
- anderthalbzeilig, kein Einzug, keine Leerzeilen
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
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1.Maschinenschrift.
-
2.Handschrift, Henze, Hans Werner, Filzstift/Fineliner (rot).
-
3.Handschrift, Enzensberger, Hans Magnus, Kugelschreiber (schwarz).
Textkonstitution
-
Folgend: handschriftlich, Filzstift/Fineliner (rot), Henze, Hans Werner
-
Folgend: Typoskript
-
"der"gelöscht durch Überschreibung
-
"("""" überschrieben mit "("
-
"ri""ir" überschrieben mit "ri"
-
"z""u" überschrieben mit "z"
-
"Dargesteller"sic
-
"Brach"gelöscht durch Überschreibung
-
"a""e" überschrieben mit "a"
-
"ä""l" überschrieben mit "ä"
-
"t"gelöscht durch Überschreibung
-
Folgend: handschriftlich, Kugelschreiber (schwarz), Enzensberger, Hans Magnus
Einzelstellenerläuterung
-
"kenn"recte "kann".
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"… voller Fallen, wie das Gedicht"Dem 2. Violinkonzert von Henze liegt Enzensbergers Gedicht "Hommage à Gödel" zugrunde.
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"… Arschlöcher es nie kapieren werden."Im Brief Ende Juli 1972 erläutert Henze Enzensberger, dass er nur einen Vorabdruck bekommen habe und selbstverständlich Autor und Gedicht in der endgültigen Partitur erwähnt werden.
-
- Der hier folgende vierzeilige Absatz darf aus urheberrechtlichen Gründen nicht wiedergegeben werden.
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Un abrazo come siempre. Que te vaya bien la música y el amor.
- Eine Umarmung wie immer. Mögen Musik und Liebe Dich begleiten.