Letter from H. W. Henze to P. Sacher, March 31, 1997

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La Leprara
C. P. 92
00047 Marino (Roma)
Ostermontag 1997 [31. März 1997]
lieber Paul,

endlich endlich ist nun auch die Reinschrift des Finales
meiner Neunten geschafft, und ich habe den Kopf frei,
meiner Mitmenschen zu gedenken und (soweit sie es ver-
dienen, also sind es nicht allzuviele Briefe, die da geschrieben
werden – ) sie zu grüssen. Ich hoffe, dass alles gut ist
auf dem Schoenenberg – ich denke oft mit Freude und Dank-
barkeit an die Märztage in Basel * und ganz besonders an
Deinen Besuch in Marino, lieber Paul, und daran dass es so lustig
und liebevoll war, auch mit dem Georg und Deinen charmanten
Freunden
.* Mögen die Götter Dir und ihnen weiterhin freundlich ge-
sonnen bleiben!

Und schön wäre es auch, sich einmal wiederzusehen, nein,
nicht “einmal” , sondern recht bald! Darüber später. Erst
wollte ich Dir ein bisschen erzählen, wie es mir ergangen ist:

Im letzten Jahr musste ich (oder durfte?) viel herum-
reisen und Ehrungen entgegennehmen und viel Musik aus meiner
Feder hören.* (Sie gefällt mir immer besser.) Dieses Jahr ist


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es allerdings fast das Gleiche. Anfang Januar sind Fausto
und ich 3 Tage vor der Premiére von Venus & Adonis *
von Nairobi nach München geflogen geflogen, ja, und diese
Uraufführung* war ein ungewöhnlich grosser Erfolg, und Dein
alter Hanswerner bzw. seine Musik wurde sehr begrüsst und gefeiert. Selbst
für mich ist da eine neue Ausdrucks- oder Darstellungsweise
zu beobachten – für mich eine ganz aufregende Sache, weil
ich nicht wüsste, woher sie kommt. Könnte sein, dass es
meine muslimisch angehauchten Winterklausuren an der Küste des
Indischen Ozeans sind (wo einem unsere westliche Kultur in Vergesssenheit
gerät oder so weit fort rückt. als träume man davon) welche
diese neuen Klänge und Emotionen ausgelöst haben.* Ich war sehr
glücklich. Und dann habe ich mich an diese 9. Sinfonie ge-
macht, ein Riesenopus in 7 Teilen (Gesamtdauer 90 min.
ca.) und das handelt nicht von der Liebe und von den
Mythen und vom Eros und von der Eifersucht, sondern von meiner
Erinnerung an das schreckliche Deutschland meiner Jugend.* Es
war sehr schwer, das Grauen zu schildern, die Seelenzustände
der Verfolgten, meinesgleichen (wie ich mir erlaube zu denken) –
die schwärzesten, schrecklichsten Dinge die es gibt. Daher bin ich
nun so erleichtert und leere bereits das 2. Glas Frascati,
zu Deinem Wohle, zu unser beider und unserer Freunde Wohl.
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Zwischen Venus und der Sinfonie habe ich unserer Voix lactée
auch noch drei Balletti (eines ganz neue, die beiden anderen
auf der Basis existierender Frühwerke) geschrieben*, die Ende Mai
in Schwetzingen * und Anfang Oktober in Berlin Lindenoper gegeben werden.

Nun der drängt sich die Frage auf, mein lieber Paul, ob
Du nicht Lust hättest, an der einen oder anderen dieser Ver-
anstaltungen teilzunehmen? Darf ich mal ein paar Vorschläge
wagen?

1.) Am 13. Mai gehe ich in München in eine Reprise von Venus
und Adonis
: wie wäre es wenn Du & der Georg (die
Oper ist für Jugendliche zugelassen!) dazustossen könntet? Es
ist ein kurzes Stück, man kann schon um 21h zu Tisch
gehen, und es gibt ein wunderbares neues italienisches Restaurant in
der Maximilianstrasse. Und da wäre kein Premiérenbetrieb,
sodass man Zeit hätte füreinander.

2.) Ja, und die oben erwähnten Balletti haben Premiére
am Sonntag, d. 25. Mai, in Schwetzingen (unweit von
Heidelberg und Mannheim, Flugplatz vorhanden – ) da ist natürlich
ein bisschen Holterdipolter, aber wir könnten ja am Sonntag
mittag gemeinsam privat speisen, oder aber am nächsten Mittag. Warst Du
je in Speyer? es ist ganz in der Nähe, sehr eindrücklich.

3.) Ja, und dann kommt dieser irrwitzige September in
Berlin, wo es viel Theatralisches gibt vom Henze (3 Sachen)


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und am 11. Sept. die Uraufführung der oben erwähnten
9. Sinfonie in der Philharmonie. Wäre es nicht wunder-
bar, wenn wir dort gemeinsam hingingen?

Am 12. (dem nächsten Tag) gibt es dann auch noch
im Schauspielhaus (am Gendarmenmarkt) die Uraufführung meines
3. (und letzten) Violinkonzerts. Das könnte sehr schön werden,
zumal es eine ganz andere Seite in meinem Schaffen betrifft
(die schöneren, besseren Dinge des Lebens) – da bleibt
ihr doch dann natürlich.

Weisst Du, ich will mich nicht aufdrängen, auch dem Georg
nicht, aber wenn es ihn interessiert, wenn meine Musik &
meine Person ihn nicht zu Tränen langweilen, dann würde
seine Präsenz mich ganz besonders freuen!

Habe ich alles gesagt? Kannst du meine Schrift lesen?
(und mir verzeihen?*1) *1) um ihretwillen? – ich komme mit diesen modernen Schreib-
geräten nicht gut zurecht, bald werde ich wieder mit Feder
und Tinte schreiben, habe die Werkzeuge schon im März letzten Jahres
in Basel erworben, hatte aber noch keine Zeit, sie auszupro-
bieren – es braucht Zeit & Ruhe.)

Nun ist es genug! Lieber Paul, ich werde mich freuen, von
Dir zu hören und Dich – Euch – zu sehen.

herzlichst
hans werner

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Tradition

  • Text Source: Basel (Schweiz), Paul Sacher Stiftung (CH-Bps), Sammlung Paul Sacher
    Shelf mark: Korrespondenz Hans Werner Henze

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • Briefpapier Henze, helles beige-gelbliches Papier, Kettlinien längs 2,8cm, kein WZ
    • Faltung: Drittelfaltung (2mal quer bei 10 u. 20 cm)
    • Extent

    • 4 folios
    • 4 written pages
    • Dimensions: 297x210 [mm] (HxW)
    • Condition

    • oben links Spur einer entfernten Büroklammer
    • Layout

    • Rand links: ca. 2,5 cm, kein Einzug; Anführungszeichen unten-oben
    • Alle nachträglichen Einfügungen haben eine zusätzliche Markierung für die Stelle, wo sie einzufügen sind..

Writing styles

Text Constitution

  • "und ihnen"added below, handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "… einmal wiederzusehen, nein, nicht einmal"Die Anführungszeichen und das nachfolgende Komma sind mit dem schwarzen Stift nachgetragen.
  • ","added inline, handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "geflogen"crossed out
  • "bzw. seine Musik"added below
  • "einem"added above
  • "rückt."added above
  • "leere""leere" crossed out and replaced with "leere"
  • "e"crossed out, handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • " Lindenoper "added above
  • "der"crossed out
  • "stossen""stössen" crossed out and replaced with "stossen", handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "Holterdipolter""Holperdipolper" crossed out and replaced with "Holterdipolter", handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "privat"added above, handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "?"added inline, handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "*1)"added above, handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "*1) um ihretwillen?"added in the bottom margin, handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • Following: handwritten, felt pen/fineliner (black), Henze, Hans Werner
  • "schon im"added above

Commentary

  • "… an die Märztage in Basel"Henze hielt sich im März 1996 zu einem Henze-Festival in Basel auf; vgl. die Briefe der Zeit.
  • "… und Deinen charmanten Freunden ."Sacher hatte mit seinem Sohn und seinen Freunden Henze überraschend zu seinem 70. Geburtstag in Marino besucht; vgl. die Briefe der Zeit.
  • "… Musik aus meiner Feder hören."Zu Henzes 70. Geburtstag fanden viele Sonderveranstaltungen statt.
  • "… Premiére von Venus & Adonis"In der Korrespondenz ist vor diesem Brief neben zwei Rezensionen zu Henzes Autobiographie bzw. zu “Venus und Adonis” auch eine Einladung der Bayerischen Staatsoper zu dieser Uraufführung überliefert, die Fausto Moroni mit den Worten “Cari saluti Fausto” an Sacher übersandt hat. Auch der beiliegende Briefumschlag ist von Moroni adressiert. Der Stempel auf dem Briefumschlag ist unleserlich, doch muss der Versand der Einladung spätestens im Dezember 1996 erfolgt sein.
  • "… geflogen, ja, und diese Uraufführung"Die Uraufführung fand am 11. Januar 1997 in München statt.
  • "… Klänge und Emotionen ausgelöst haben."Nach Angabe von Michael Kerstan verbrachte Henze in den 90er Jahren “die Wintermonate auf der Insel Lamu, die zu Kenia gehört und von islamischer Kultur geprägt ist.”; Vgl. Kerstans Ausführungen zu “L’Upupa” im Werkverzeichnis der Seite der Henze-Stiftung..
  • "… das schreckliche Deutschland meiner Jugend."Die 9. Sinfonie, die Chor verwendet, basiert auf dem Roman Das siebte Kreuz von Anna Seghers.
  • "… der Basis existierender Frühwerke) geschrieben"In dieser Triologie sind folgende Werke enthalten: Labyrinth, Pulcinellas Erzählungen und Le fils de l’air zusammengefasst.
  • "… die Ende Mai in Schwetzingen"Die Uraufführung fand am 25. Mai 1997 in Schwetzingen statt.

        XML

        Credits

        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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