Letter from H. W. Henze to H. M. Enzensberger, January 5, 1972

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La Leprara
00047 Marino (Roma)

magnifico Mang

eben flattert der brief mit der wohlbekannten schreibmaschinenschrift auf meinen musik- aber nicht bank-noten--
übersäten schreibtisch. bin im endspurt des heliogabalus stücks (wie lange schon, wie lange noch) und
diesmal ohne die agonien die das schreiben sonst so gern begleiten. vielleicht ist es deswegen, weil ich
weiss, dass ich mich danach der welt der music-hall endlich und gänzlich zuwenden kann. noch
2 monate konzerte, und eine “junger lord” inszenierung im lieblichen frankfurt *, dann kann es
losgehn.

versuche, Deiner bitte zu entsprechen und glücklich zu sein. momentweise schaffe ich das sogar. hatte einen
sehr guten aufenthalt in london, wo es kaum erbsbrei gab, aber viel freundliches und ermutigendes.

auch gespräche mit dem National Theatre. ¡Ay Rachel! wird dem board im januar vorgelegt.
man klagt dort über geldschwierigkeiten (budget überzogen) und ich schlug vor, man solle ver-
suchen, mit BBC und NET zu ko-produzieren. Das müsste Mr. Adler doch eigentlich gefallen, wo
er doch nach co-produzenten suchte. dieser vorschlag ist ganz neu und wird nun wohl diskutiert
werden. der vertrag zwischen schott und NET ist noch nicht in mainz. dass schott uns bescheisst,
ist ausgeschlossen. eingeschlossen hingegen ist, dass ich mich irrwitzig freue wenn ich endlich das stück
unter die finger kriege. die kopenhagener platten* sind noch nicht eingetroffen, aber sie werden schon,
und ich bin sehr neugierig darauf.

von miguel kam ein brief (über paris) äusserst vorsichtig, keine interessanten neuigkeiten. er
musste sich von seiner “freundin” trennen, ekelhaft dass man nicht einmal die korrekte geschlechts-


La Leprara
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beschreibung riskieren darf. Leo Brouwer geht es gut, er hat die (mit 3 kindern versehene) witwe
von Ole Pantoja geheiratet (in europa sitzen 2 damen, die seiner harren und glauben, geheiratet
zu werden) und wohnt nun in einem grossen schönen haus. miguel hat einen dachshund ge-
kauft (wie wird er ihn ernähren?) und der dirigent Duchezne hat nach mir gefragt. wenn ich
recht verstanden habe, müsste ich ihm schreiben, ich nehme an sowas wie einen reuebrief, dann darf ich
vielleicht wieder kommen. diese kinder! und wieviel futility!man sorgt sich, hat lange monate der
angst und der unsicherheit, macht sich vorwürfe, flippt aus (niemand erwähnt meinen freund
Rogelio, und ich höre nichts von ihm) für mich ist etwas zusammengebrochen, mehr als eine
illusion (mehr als Rachels illusion) und man muss mühsam versuchen, sich eine neue
form zu beschaffen, die es einem erlaubt, irgendwie zu leben. ein neues provisorium.
habe da schon einige fortschritte erzielt (rückschritte sind es) und es geht, es geht
besser, danke sehr, da kommt so ein rotzlöffel und bietet mir was bequemes
an, was verlogenes, zur besänftigung des gestörten ego. dabei ginge ich gern nach Cuba wieder
einmal, aber unter ganz anderen voraussetzungen und bedingungen als bisher. und die kann
La Revolución nicht erfüllen.

   Mein Heliogabalus wird gut, glaube ich. Muss noch ziemlich viel daran arbeiten, diese woche
und wohl auch unterwegs. Freue mich dass Gastón endlich Glück hat.* und dass Du
mit Deinem buch fertig bist. Ich lese jeden tag in Deinen gedichten,* entdecke
neue. lese sie vor, lese sie wieder, und entnehme ihnen viel vergnügliches, belehrendes,
mehr als man aus essays oder traktaten entnehmen kann. und so habe ich gute


La Leprara
00047 Marino (Roma)
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gesellschaft in meinem arbeitszimmer. etwas streng ist so einer wie Du einem wie mir gegenüber, aber das schadet
gar nichts. ach ich verdiene strafenich bin nicht von den bravenschlecht war ich und vermessenbin traurig mag nichts essen *
dabei hau ich mir den bauch voll, rücksichtslos, mit tagliolini und tagliatelle und
raviolini und tortellini. dann bin ich müde und muss spazieren gehen. dann geht
es wieder. die hemdenknöpfe springen. man muss der kunst dies opfer bringen.
erzwingen besingen verdingen den taktstock schwingen.

nächste woche bin ich in münchen.* da ruf ich Dich mal an. nachher bin ich
in saarbrücken (!) dann in frankfurt. vielleicht führt Dich der weg mal
scheiss schreibgeräte nach dort. habe Dir viel zu erzählen. könnte Dich glatt
aufmuntern, falls nötig.

habe sylvester mit einem sehr schönen mädchen schwanensee getanzt, oder war es
dornröschen. sie hat sich nicht geniert. sie heisst Camille (aber ist ein echtes
mädchen, wie so mädchen sind) und ist verheiratet. ich war sehr betrunken auch.

nun grüsse ich Dich und janine und umarme Dich revolucionariamente
hans

P.S. eben ruft Sheldon aus N.Y. an und sagt, die
NET sei entzückt über den vorschlag einer
collaboration mit dem old vic. man würde dann
in london drehen (!!!) gefiele Dir das auch besser?!

[Figure: ]

nun muss man sehen, wie die sich zsamraufn. aber ein fortschritt ist
es ja wohl, und es macht mich sicherer.

Editorial

Responsibilities

Editor(s)
Irmlind Capelle
Transcription
Irmlind Capelle

Tradition

  • Text Source: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Shelf mark: Briefe Hans Werner Henze

    Physical Description

    • Document type: Letter
    • Material

    • BP_Henze_06
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Extent

    • 3 folios
    • 3 written pages
    • Dimensions: 300x212 [mm] (HxW)
    • Layout

    • Der Text ist um 90° (im Uhrzeigersinn!) gedreht, also das Blatt im Querformat, beschrieben.
    • Das Postscript beginnt neben dem Namen rechtsbündig auf der rechten Hälfte des Blattes und geht dann um 90° gedreht oberhalb des Briefkopfes (auf dem Kopf) weiter
    • Rand links: 3,5 cm, Rand rechts 3 cm, so dass der Briefkopf frei steht
    • Anführungszeichen unten oben
    • Seitenzahlen links auf den Rand herausgerückt

Writing styles

Text Constitution

  • Following: handwritten, felt pen/fineliner, Henze, Hans Werner
  • Following: handwritten, ballpoint pen (blue), Henze, Hans Werner
  • "sonst"added above
  • "doch"added above
  • Following: handwritten, felt pen/fineliner, Henze, Hans Werner
  • "was"crossed out
  • "aus"crossed out
  • "ist so einer … Du einem wie"added above
  • "… bin traurig mag nichts essen"Die erste der vier Zeilen steht direkt in der angefangenen Zeile, die drei unteren sind dann entsprechend eingerückt
  • Following: handwritten, pencil, Henze, Hans Werner
  • "… P.S."Das Postscriptum steht rechts neben der Unterschrift auf der rechten Hälfte des Blattes.

Commentary

  • Año de la Puta heroico
    • Das heroische Jahr der Hure
  • magnifico
    • Großer
  • "… lord inszenierung im lieblichen frankfurt"Die Premiere von Henzes Inszenierung seiner Oper Der junge Lord fand bereits am 27. Februar 1972 in Frankfurt statt.
  • "… finger kriege. die kopenhagener platten"Vgl. hierzu den vorangehenden Brief von Enzensberger.
  • "… dass Gastón endlich Glück hat."Hier spielt Henze wahrscheinlich auf Salvatores Theaterstück Büchners Tod an, das im Oktober 1972 in Darmstadt zur Uraufführung gelangte; vgl. die Briefe aus der Zeit. Außerdem erhielt Salvatore 1972 den Gerhart-Hauptmann-Preis.
  • "… jeden tag in Deinen gedichten,"Enzensberger hatte 1971 erstmals einen Sammelband mit Gedichten veröffentlicht mit dem Titel Gedichte 1955–1970.
  • "… bin traurig mag nichts essen"Hier zitiert Henze Worte des weißen und gepflegten Hundes aus dem Gedicht “Das Opfer” von Franz Werfel.
  • "… bin ich in münchen ."Henze sollte am 14. Januar 1972 das 2. Musica-Viva-Konzert in München dirigieren, musste dies jedoch kurzfristig wegen Krankheit absagen; vgl. Süddeutsche Zeitung 14. Januar 1972, S. 11.
  • revolucionariamente
    • revolutionär
  • [Figure Description]Pfeil senkrecht hoch zur Stelle oberhalb des Briefkopfes .
  • "zsamraufn"recte "zusammenraufen".

      Automatical Commentary

      • "Ole Pantoja"Assignment not clear.

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      Credits

      Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

      If you've spotted some error or inaccuracy please do not hesitate to inform us via henze-digital [@] zenmem.de.