Brief (mit Umschlag) von H. W. Henze an G. Weil, 8. April 1974
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Absolute Chronologie
Vorausgehend
- 1974-02-11: an Barnet
- 1974-03-18: von Weil
Folgend
- 1974-08-14: an Enzensberger
- 1974-07-25: von Enzensberger
[Manuskript]
00047 Marino (Roma)
danke Dir tausendmal für Deinen lieben brief.
ich hätte München
* mit den üblichen gefühlen
von bitterkeit verlassen wenn ich nicht Dich
gesehen hätte. Dich zu sehen und zu sprechen war
eine grosse freude. so vieles hat mich an 1952
und vorher und nachher erinnert und ich habe vor, eine
„Boulevard„ inszenierung an einem wichtigen platz machen
zu lassen oder selbst zu machen, in der alle diese
schönen dinge von damals (die mit Cocteau aber auch
gar nichts zu tun haben)* herauskommen*. es gibt überhaupt
bisher nur ein einziges equivalent zu unserem stück, und das
ist Paul Morriseys film „Trash„ da ist die gleiche
moralität, die gleiche atmosphere, der gleiche humor, zwanzig
jahre später! J. P. P. verdummung und die dadurch von
ihm an unserem stück verübte vergröberung ist so traurig* wie
der rauschende beifall der bewohner von Ruppelshausen.* es ist
das alles sehr kläglich und traurig. aber wir kriegen bald
eine bessere aufführung woanders.
darf ich Dich um etwas bitten? Du weisst ja dass
eine ganze menge junger Linker im Zuchthaus sitzen und
auf ihre prozesse warten.* wir wollen uns jetzt nicht über
pro und contra ihrer strategie etc. unterhalten. ich möchte
00047 Marino (Roma)
Dich nur bitten Dir vozustellen dass die boches sie
in soundproof einzelzellen halten wo sie langsam verrückt
werden. die prozesse werden immer wieder verschoben, um
zu erreichen dass die jungen anwälte die sich um sie
kümmern*, nicht weiter können. in vielen fällen haben sich
auch die eltern von diesen kindern abgewandt.*
es geht darum, geld zu sammeln, und ich möchte Dich
bitten, das zu tun in Deinem verwandten- und bekanntenkreise
und auch selbst was Du kannst zu schicken.
die adresse ist
Gesellschaft für Recht und Politik
die Bank:
B. S. G. Hamburg
Konto Nr. 11630243
Du solltest auf die anweisung schreiben: für die Verteidigung
der politischen Gefangenen.
Bitte hilf auch Du, liebe Butza.
sei herzlich gegrüsst
und empfange einen kuss
von Deinem
hans
[Umschlag, Manuskript]
Svizzera
Illustre Signora,
Grete Weil – Jokisch
CH 6611
Contra / Ticino
La Leprara
00047 Marino (Roma)
Apparat
Verantwortlichkeiten
- Herausgegeben von
- Irmlind Capelle
- Übertragung
- Irmlind Capelle; Joachim Veit
Überlieferung
-
Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
Signatur: GW 31Quellenbeschreibung
- Dokumenttyp: Brief
- Briefpapier Henze
- Faltung: 2mal auf DinA6
- 2 Blätter
- 2 beschriebene Seiten
- Abmessungen: 290x210 [mm] (HxB)
- Rand: 3 cm; Einzug 1 cm
Material
Umfang
Layout
Schreibstile
-
1.Handschrift, Henze, Hans Werner, Filzstift/Fineliner (violett).
Einzelstellenerläuterung
-
"… ich hätte München"Henze spricht hier von dem Aufenthalt in München anlässlich der Inszenierung von „Boulevard Solitude“; vgl. den vorangehenden Brief.
-
"… gar nichts zu tun haben)" Karl Heinz Ruppel hatte in seiner Rezension einen Bezug zu Jean Cocteau hergestellt; vgl. den vorangehenden Brief von Grete Weil.
-
"… nichts zu tun haben) herauskommen"Henze inszenierte „Boulevard Solitude“ 1976 am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart; vgl. Autobiographie, S. 424f.
-
"… verübte vergröberung ist so traurig"In den „Daten zur Biographie“ des Buches von Max W. Busch wird diese Inszenierung ausdrücklich vermerkt und bemerkt: „Auf Grund des eigenwilligen Regiekonzepts kommt es zwichen Henze und Ponnelle zu Unstimmigkeiten.“, vgl. Max W. Busch, Jean-Pierre Ponnelle 1932–1988, Berlin 2002, S. 372.
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"… beifall der bewohner von Ruppelshausen."Umschreibung für München, dem Ort des Kritikers K. H. Ruppel.
-
boches
- abwertend für "Deutsche"
-
"… die sich um sie kümmern"Zu den Anwälten der Mitglieder der RAF, die in Stammheim inhaftiert waren, gehörten u. a. Klaus Croissant und Siegfried Haag, aber auch Otto Schily und Hans-Christian Ströbele.
-
"… eltern von diesen kindern abgewandt."Es gab in dieser Zeit einen „Rechtshilfefonds für die Verteidigung politischer Gefangener“, auf den Henze hier wahrscheinlich anspielt. Vgl. zu dem Thema: Michael März, Linker Protest nach dem Deutschen Herbst: Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ‚starken Staates‘, 1977–1979, Bielefeld 2012, darin bes.: IV. Gegen Repression in Gefängnissen. Die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen, S. 135–202 .