Brief von H. W. Henze an H. M. Enzensberger, 28. September 1979

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Marino
am 28. Sept.
1979

mein lieber Mang,

jahrzehnte sind über unseren kontinent hingejagt, und wir
haben uns nicht gesehen, haben kaum voneinander gehört,
es tut mir leid, ich schreibe Dir nun um Dir in Deiner
neuen wohnung in Schwabing * viel Gutes zu wünschen, vergnügen
und wohlbefinden, damit Du noch viel schöne sachen schreiben
kannst, wobei mir einfällt dass ich geträumt oder gehört
habe Du schriebst ein grosses prosa werk *, wer weiss ob es
wahr ist, aber ich benutze die erwähnung dieses umstands
auch um Dir mitzuteilen, dass auch ich einen hang zum
epischen zu entwickeln beginne, wobei in meinem falle wohl
auch das kontinuierliche altern, das zuweilen praezipitöse[sic] formen
annimmt, eine rolle spielen mag, weisst Du, dies gefallenfinden
am märchenerzählen oder am erzählen von märchenhaft schönen
wahren geschichten,* worunter die meisten eigentlich was mit
der liebe oder doch des[sic] ausführung des liebesaktes zu tun
haben und alle schon ganz lange zurückliegen, sodass meistens
zu hörern geredet oder zuan lesern geschrieben wird, die noch gar nicht
auf der welt waren als sich das beschriebene ereignete,


und die mit entsprechender neugier bei der sache sind, ganz
so wie ich wenn ich das vergnügen haben könnte Dich
recht bald einmal zu sehen oder Du sähest mich recht bald
einmal, und das muss auch geschehen, es ist ja wirklich
nicht zu glauben wie sehr wir einander vernachlässigen, auch
wenn ich im vorigen jahr eine sehr schwierige zeit durch-
stehen musste* oder wollte, deren inhalte sich in mein
leben nun einmal hineinlanciert haben, sodass es sich ganz
verändert hat und immer weiter noch sich verändert, und damit
auch den musikalischen stil beeinflusst, etwa in der oben
angedeuteten weise, aber es ist alles eigentlich sehr gut, und
ich akzeptiere es, zumal mir die arbeiten gelingen und ich
ohne mühen schreiben gelernt habe, nur dass alles sehr
viel zeit braucht, viel mehr als sonst, als ich noch unter
druck stand und mich einschüchtern liess von den schrecklichen
verhältnissen in der musikwelt, die mich ja eigentlich gar nicht
tangieren dürften, nun ja, auch das ist eben anders geworden, aber
eine sache die bleibt ist meine freundschaftliche zuneigung zu
Dir, und die möchte ich eben recht bald erneuern und ver-
jüngen, weswegen es schön wäre wenn Du mir Deine telephon-
nummer auch geben würdest.

Sei umarmt von Deinem     
hans

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle; Joachim Veit

Überlieferung

  • Textzeuge: Deutsches Literaturarchiv Marbach (D-MB), A: Enzensberger, Hans Magnus
    Signatur: Briefe Hans Werner Henze

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • dickeres, cremefarbenes Papier; obwohl wenig durchscheinend nur einseitig beschrieben; kein eingedruckter Briefkopf!; beschrieben mit dünnem schwarzem Filzstift;
    • Faltung: einmal quer, einmal längs
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 2 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 252x203 [mm] (HxB)
    • Layout

    • linker Rand knapp 1,5cm, keine Absatzeinrückung
    • bei rechts stehendem Datum: Marino links, darunter: am 28. Sept., rechts: 1979

Schreibstile

Textkonstitution

  • "praezipitöse"sic
  • "des"sic
  • "zu"durchgestrichen
  • "an"über der Zeile hinzugefügt
  • "n"durchgestrichen
  • "wird,"über der Zeile hinzugefügt
  • "sich"über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • "… Deiner neuen wohnung in Schwabing"Enzensberger zog 1979 von Berlin nach München (Schwabing).
  • "… schriebst ein grosses prosa werk"Enzensberger veröffentlichte Anfang der 80er Jahre kein größeres Prosawerk.
  • "… von märchenhaft schönen wahren geschichten,"Henze vertonte 1978/1979 den Orpheus-Stoff für verschiedene Besetzungen.
  • "… schwierige zeit durch stehen musste"Henze spielt hier auf seinen Herzinfarkt Anfang 1978 und eine heftige Liebesaffaire an, vgl. die vorherigen Briefe.

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        Mit freundlicher Genehmigung der Hans Werner Henze-Stiftung (Dr. Michael Kerstan).

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