Brief von H. W. Henze an G. Weil, frühestens am 11. April 1950

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[Manuskript]

*
liebe butza,

ein karte von butzi wurde aus egern nachgeschickt, woraus ich schliesse:
Du bist abgereist. zu dumm das – wohin schreiben? ich schreibe nach stuttgart. vielen
dank für Deine zeilen. unsere manon, dieses gebilde aus zartem draht, blauen
pastellenen tönen, zarten orchesterklängen, sie spukt auch in meinem kopf. ich
traf oestergaard. den modekönig von berlin, er ist bereit zu den futuristischen
kostümen, von denen ich träume. weiterhin traf ich celibidache, der mir gut
gefiel, obwohl er meine 2. sinfonie als schwärmerisch und inobjectiv ablehnt. wir
treffen uns morgen wieder.* drittens hörte ich die neue opéra minute meines
zeitgenossen goldberg in der badewanne. sie handelte von phaedra und hiess
„southern scandal“ , war sehr gut gearbeitet und hatte einen guten text. hübner
der leiter der „quallenpeitsche“ hatte ihn gemacht. ich möchte mich auch vor meiner
abreise noch mit camaro treffen, von dem ich eine herrliche anregung habe,
die ich bei der inszenierung von „jack pudding“ verwenden werde, ist aber zu
kompliziert zu beschreiben jetzt. zwei neue „c’est le may“ variationen habe ich
gemacht. und „trois pieces faciles pour le piano“ , in g dur, klingt irrsinnig
modern, auf 7 tönen, eben g dur, aufgebaut. dieses wird wahrscheinlich meine
neue masche sein. was noch neues? am bett jetzt ein ex cellentes[sic] radio, mit
dem ich quasi alle sender störungsfrei kriege, ein army radio. z. zt. höre ich
südwestfunk. am bett das radio, im bett – nichts. mehrere gelegenheiten ergriff
ich nicht, weil zu empfindlich gegen ordinäres, in der letzten konsequenz eben ...
und die liebe nagt noch immer. damals als es losging – wie glücklich war ich.*
o butza, es ist sehr schwer! umstehend ein gedicht von william blake.

egk zu treffen vermied ich bis jetzt, mit blacher war ich einmal aus, er
war spiessig und zum kotzen. ostern bei dessau war es fein. grüsse von den beiden.


er behandelt sie* vor liebe ganz schlecht, sie nennt ihn: LI-PAU-DE.*

das finde ich süss. der himmel bescherte mir karfreitag als lichtblick den besuch
von jean-pierre, der sich soweit emanzipiert hat, daß er heimlich aus strassburg
nach heidelberg kommen wird, wenn ich dort bin. wenn’s reicht, wollen wir zu zweit
in die provence, auf jeden fall möchte er mit nach egern. erlaubst du das?
er ist temperamentvoll, sieht reizend aus und ist sehr klug und das erfreulichste
was ich kenne, nur sicher kein pensy. oder ist das nach-heidelberg-kommen ein
solches zeichen? man muß sehen, jedenfalls wird aus egern nichts, wenn es „damit“
nichts ist. mein herz ist keinerlei anstrengungen gewachsen. ausserdem soll „der abstieg
des chevalier de Gireux“
bis september stehen. morgen kriege ich jackerl und
trenchcoat. LI-PAU-De hat mir ami-hoserl geschenkt.

jedes kunstwerk wäre ein sonderfall. ist dem so? ach verdammt, bin ich unglücklich!
ich mache jetzt einen kult daraus, in dem ich meine gefühle objectiviere im sinne
celibidaches und dahin altere, wie die „irre von challiot“ , die ich inzwischen sah.*
das schönste, was es gibt. ich lernte es beim einen besuch fast auswendig und
könnte Euch szenen vorspielen. wie gar, wenn ich nächste woche nochmal hingehe?!

sei innigst gegrüsst!
alles gute
und 1000 zärtliche gedanken
Dein hänschen


O rose. thou art sick. the invisible worm that flies in the night in the howling storm has found out the bed of crimson joy. and his dark. secret love does thy life destroy. *

Apparat

Verantwortlichkeiten

Herausgegeben von
Irmlind Capelle
Übertragung
Irmlind Capelle

Überlieferung

  • Textzeuge: Stadtbibliothek München (D-Mst), Monacensia
    Signatur: GW 31

    Quellenbeschreibung

    • Dokumenttyp: Brief
    • Material

    • beiges, glattes Papier
    • Faltung: 2mal auf DinA6
    • Umfang

    • 2 Blätter
    • 3 beschriebene Seiten
    • Abmessungen: 208x298 [mm] (HxB)
    • Layout

    • Bei dem Gedicht von William Blake stehen die Punkte in der Mitte der Zeile

Schreibstile

Textkonstitution

  • "ex cellentes"sic
  • "… gedicht von william blake ."Henze notierte das Gedicht nicht auf der Rückseite dieses Blatts, sondern auf der Rückseite des zweiten Blattes.

Einzelstellenerläuterung

  • "… "Dieser Brief wurde gemeinsam mit dem Brief an Walter Jockisch verschickt.
  • "… Mitte April 1950"Auf Grund der erwähnten Aktivitäten muss der Brief, nach Ostern, das ist der 9. und 10. April 1950, Mitte April 1950 geschrieben sein.
  • "… wir treffen uns morgen wieder."Vgl. zum Treffen mit Celibidache auch die Autobiographie S. 111.
  • opéra minute
    • Minutenoper
  • "… – wie glücklich war ich."Hier spricht Henze die Trennung von Heinz Poll an, vgl. Autobiographie S. 111f.
  • "… er behandelt sie"Paul Dessau war in dieser Zeit mit Elisabeth Hauptmann verheiratet. Henze könnte hier aber auch bereits von Antje Ruge sprechen, die Dessau 1952 heiratete.
  • "… sie nennt ihn: LI-PAU-DE ."Dies dürfte eine Abkürzung für „Lieber Paul Dessau“ sein und hat diese eine große Nähe zu dem Namen Li Tai Pe, unter dem der Dichter Li Bai seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Europa bekannt war.
  • "pensy"recte "pansy".
  • pensy
    • wörtlich: Stiefmütterchen, auch verwendet für männliche Homosexuelle.
  • "… , die ich inzwischen sah."Die „Irre von Chaillot“ wurde am Hebbel-Theater gegeben, mit Hermine Körner als Irre und Edwin Roth als Paul. Leider ließen sich die einzelnen Aufführungen bislang nicht nachweisen, vgl. aber z. B. die Abbildung in Theater der Zeit April 1950, S. 12.
  • "… love does thy life destroy."Henze zitiert hier das Gedicht „The Sick Rose“ von William Blake.

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